Porträt über den Boina-Hof in der Waakirchner Ortsmitte:
Könnten Murni, Bambi, Uschi und Fleckerl sprechen, würden sie sich bestimmt über das sensationelle Wellness-Programm unterhalten, das sie mit ihren Kuh-Kolleginnen am „Boina“-Hof genießen dürfen.
Das reicht vom täglichen Striegeln mit Schwanzwäsche über eine gelegentliche Dusche mit warmem Dampfstrahl bis hin zur regelmäßigen „Maniküre“ der Klauen. Streicheleinheiten gibt‘s für die Milchkühe samt Nachwuchs von Klaus und Christina Schußmann ohnehin obendrauf. Und Hof-Maskottchen Benerl, der Gnaden-Ochs, bekommt stets eine Extra-Kuscheleinheit. Zusammen mit der Familie steht das Vieh hier zweifelsohne an vorderster Stelle und zwar von früh bis spät, an 365 Tagen im Jahr. Urlaub gibt‘s also kaum, Freude und Leidenschaft für die Arbeit mit den Tieren dafür umso mehr. Auch der Spaß kommt bei den Schußmanns nicht zu kurz – Scho-Schack, den schneidigen Typen vom Balkon mit seiner Schix Louisa, kennt so gut wie jeder in Waakirch‘.
Letzter Milchviehbetrieb im Ortskern
Der Biobauernhof der Familie Schußmann am Brunnenweg ist der einzige noch aktiv als Milchviehbetrieb bewirtschaftete Hof in der Ortsmitte von Waakirchen. Hoferbe Klaus hat den elterlichen Betrieb 1998 übernommen und führt ihn zusammen mit seiner Frau Christina. Neben knapp 20 Milchkühen und der Nachzucht – die Herde besteht hauptsächlich aus Fleckvieh sowie Braunvieh, Schwarzbunten, Murnau-Werdenfelser und Pinzgauer-Rindern – kümmern sie sich in Waakirchen um 20 Hektar Mäh- und Weidefläche und gut neun Hektar Wald, verteilt auf mehrere Flächen, zum Beispiel Richtung Sigriz-Alm in Marienstein oder im nahen Allgau.
Das Gebäude des alten „Boina“-Hofs, der offiziell Beim oder Zum Pointner genannt wird, besteht seit 1767. Urkundlich erwähnt wurde die Hofstelle allerdings schon früher und überstand sogar den verheerenden Kirchenbrand anno 1737, der jedoch 15 Höfe in einem „wütenden Feuer“ vernichtete. Laut Waakirchner Chronik brach am Karfreitag des Jahres 1829 erneut ein Großbrand im Dorf aus, weshalb damals viele Waakirchner ihre Bauernhöfe außerhalb der Ortsgrenze wieder aufbauten. Der „Boina“ aber blieb an Ort und Stelle im heutigen Unterdorf und besteht im Erdgeschoss aus dicken, verputzten Steinen, sogenannten „Bachbummerln“, und im Obergeschoss aus Holzwänden. Alles unisoliert versteht sich – der Denkmalschutz lässt grüßen… Immerhin darf der Außenbereich gestaltet werden, wie es den Hofeignern beliebt, und Christina Schußmann pflegt ein kreatives Händchen für liebevolle und witzige Deko-Ideen an fast jeder verfügbaren Hausecke.
Landwirtschaftliche Betriebe, die nach streng biologischen Richtlinien arbeiten, gibt es im Gemeindegebiet Waakirchen derlei noch ein paar. „Wir sind seit 2008 offiziell Biobetrieb, haben aber eigentlich schon immer biologisch gearbeitet und identifizieren uns in jeglicher Hinsicht damit“, berichtet Klaus. Der Hof ist Mitglied beim Biokreis e.V. (Verband für ökologischen Landbau und gesunde Ernährung). Die jeweils großen jährlichen Kontrollen fürs Zertifikat werden angemeldet, zusätzlich findet einmal pro Jahr eine unangemeldete Kontrolle statt. „Aber wir haben keinen Stress damit, weil es sowieso immer passt“, sagt Christina. „Wir machen das wirklich aus Überzeugung, biologische Ernährung und Lebensweise inbegriffen.“
Milch ist nicht gleich Milch
Das Tagwerk der Schußmanns beginnt meist gegen 5.30 Uhr morgens. Zweimal täglich wird gemolken, mit einer Rohr-Melkanlage aus den 1980-er Jahren, die gut gepflegt noch tadellos funktioniert. „Ab Ende der Sechziger war so eine Anlage der Bringer! Die allerneueste Technik wäre heutzutage ein Melk-Roboter mit Rondell. Der hat aber sicher auch seine Tücken“, meint Klaus. „Wir sind eher das Glentleiten*-Modell – ein bisserl aufwendig, aber dafür brauchen wir kein Fitness-Studio.“
Jeden zweiten Abend kommt der Milchwagen und transportiert die gesammelte und gekühlte Milch zur Allgäu Milch Käse eG in Kimratshofen / Allgäu, die sie zu Bio-Produkten der Marke „Allmikäs“ weiter verarbeitet. Der Sammelwagen der Molkerei kontrolliert die Milch jedes Mal auf Hemmstoffe. „Hemmstoffe sind nachweisbar, wenn die Tiere antibiotisch behandelt werden. Aber das kommt bei uns eh nicht vor, weil wir homöopathisch behandeln. Wir sind also ganz entspannt.“ Rund ein dutzend Mal im Monat macht der Sammelwagen zusätzlich eine Qualitätskontrolle auf den Zell-, Fett-, Eiweiß- und Harnstoff-Gehalt der Milch. Der ausgezahlte Preis für den Liter Milch variiert. „Wer eine hochwertige Milch liefert, erhält auch einen besseren Preis.“ Plus-/Minus 57 Cent plus Weidezuschlag in den Sommermonaten bekommen die Lieferanten der Molkerei pro Liter Biomilch (Stand Juli 2022) – abhängig vom Marktpreis und von Verbrauchsschwankungen. Dieser Preis bezieht sich auf Spitzenqualität.
Aber: Milch ist nicht gleich Milch! Ursprünglich hat Milch einen Fettgehalt von durchschnittlich 4,2 Prozent und rund 3,4 Prozent Eiweiß. „Milch ist ohnehin ein schwieriges Thema“, sagt Christina. „Manches ist nur noch ein ‚Gwasch‘ und hat nicht mehr viel mit der ursprünglichen Beschaffenheit von frischer Kuhmilch zu tun. Wir haben viele Jahre lang selbst unsere Milch ab Hof verkauft, aber irgendwann konnten wir nicht mehr konzentriert arbeiten, und die Unruhe für die Tiere durch die Kundschaft war zu groß.“
Anbindehaltung mit Winterauslauf und Sommerweidehaltung
Der körperliche Einsatz in einem landwirtschaftlichen Betrieb ist ohnehin immens. Gefüttert wird am „Boina“-Hof immer noch per Hand, also mit der Heugabel (kein Futtermischwagen oder Hoftruck). Zudem stehen die Kühe im Stall nicht einfach auf glattem Beton, sondern auf Gummimatten und Einstreu. „Wir gabeln den kompletten Mist noch selbst mit der Hand raus, nachdem er mit effektiven Mikroorganismen (EM) behandelt wurde. Und die Tiere leben in Anbindehaltung mit Winterauslauf und Sommerweidehaltung. In dieser Haltungsform sind die Tiere in der Regel ruhig, gesund und ausgeglichen. Das Jungvieh ist im Sommer sogar komplett draußen. Nur die ganz kleinen Kälbchen und die Kühe werden über Nacht reingeholt. Das verlangt von uns täglich mindestens eine Stunde zusätzlichen Zeitaufwand“, sagt Christina. Die hofeigenen Wiesen zum Grasen liegen zum Beispiel in Richtung Gewerbegebiet am Brunnenweg oder hinterhalb des Gemeinde-Friedhofs. Ungefähr zehn Hektar Weidefläche werden der Reihe nach abgegrast und die Parzellen dafür täglich neu abgesteckt.
Die Geburt eines Kälbchens ist jedes Mal bewegend
Ein bisschen unkonventioneller läuft es auf dem „Boina“-Hof auch beim Nachwuchs: Etwa alle ein bis zwei Jahre bekommt hier eine Kuh ein neues Kälbchen. Christina spricht liebevoll von Babys. „Bei einer anstehenden Geburt muss man Tag und Nacht einsatzbereit sein. Die Geburt eines Kälbchens ist jedes Mal ein sehr bewegender Moment und schön, wenn alles gut geht. Manchmal kommt es aber auch vor, dass das Kälbchen im Mutterleib gedreht werden muss, weil es sonst nicht raus geht. Das ist immer spannend!“ Die Tierärztin braucht die Familie Schußmann eher selten zu einer Geburt hinzuzurufen. Denn auch um die Tiergesundheit kümmern sich die Landwirte vorwiegend selbst, Christina hat sich dafür eigens spezielle (Heil-)Behandlungstechniken angeeignet, die schon bei den Kleinsten angewendet werden können.
Was wenige wissen:
Einige Landwirte im Landkreis „vermarkten“ die Erstmilch nach der Geburt eines Kälbchens, das sogenannte Colostrum ihrer nicht mit Antibiotika behandelten Mutterkühe – darunter auch der „Boina“-Hof. „Wir nehmen dem Kälbchen nichts von der wertvollen Erstmilch weg, sondern verwenden nur den Überschuss“, betont Christina. Dieser Überschuss wird eingefroren und zum regionalen Sammeltermin der Wasserburger Firma „BioKolTec“ nach Miesbach gebracht und zu Bio-Colostrum-Kapseln weiter verarbeitet. Die im Colostrum enthaltenen Immunglobuline sollen vor allem die Immunabwehr stärken. Zu den Hauptanwendungsgebieten der Bio-Kapseln zählen laut Hersteller Allergien, Hautprobleme, Autoimmunkrankheiten, Entzündungen und Arthritis, Darminfektionen, Muskelaufbau.
Die Kälbchen, die der Betrieb nicht selbst aufziehen kann, werden – sofern sie nicht ein Bauer im Umkreis aufnimmt – vier bis fünf Wochen nach der Geburt auf dem Miesbacher Kälbermarkt verkauft, meist an Mastbetriebe in ganz Deutschland. „Früher haben wir dann immer zu den Kindern gesagt: Die Kälbchen fahren in den Urlaub.“ Den Kreislauf der heutigen Lebensmittelwirtschaft kann halt auch ein Bio-Bauernhof nicht durchbrechen…
Qualitativ hochwertigeres Fleisch wird indes immer gefragter. Dennoch ist man auf dem Schußmannhof eher vegetarisch unterwegs. Auslöser für die Entscheidung, auf Fleisch zu verzichten, war unter anderem ein Ausflug der Waakirchner Ortsbäuerinnen ins Logistikzentrum einer bekannten Fast-Food-Kette bei Günzburg vor etlichen Jahren… „Aber jeder soll so leben und essen, wie und was er mag“, sagt Christina.
Vom Hof kann man nicht abbeißen
Christina und Klaus sind auch alles andere als dogmatisch, was die Betriebsform eines Bauernhofs angeht. „Man muss immer schauen, was für einen selber passt.“ So sind die Schußmanns absolut zufrieden als Kleinunternehmer im Bio-Bereich. „Die Arbeit an sich erdet sehr und ist kein Ballast für uns.“ Schwer zu widerlegen scheint auch immer noch das Klischee vom reichen Bauern: „Man kann nicht vom Hof abbeißen und versucht seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und das, was da ist, für die nächste Generation zu erhalten. Das ist eine große Verpflichtung und wir machen es wirklich gern.“ Naturschutz, Bodenpflege und Schutz der Artenvielfalt inklusive Bienen und anderen Insekten – kurzum die Pflege der Kulturlandschaft – bleibt darüber hinaus eine stetige Aufgabe aller Landwirte.
Zusätzlich kostet die Dokumentation von Abläufen, kurzum das Management eines landwirtschaftlichen Betriebs, wahnsinnig viel Zeit. Da die Schußmanns so gut wie alles selbst organisieren oder persönlich in die Hand nehmen, inklusive Ernte, Waldarbeit, Reparatur von Maschinen und Fahrzeugen über die Neuentwicklung von arbeitserleichternden Werkzeugen bis hin zur Renovierung alter Gerätschaften oder Gebäudeteilen – also absolut ressourcenschonend – sind sie 365 Tage im Jahr eingespannt. In den vergangenen zwei Jahrzehnten, in der Christina und Klaus den Hof unterhalten, hatten sie vielleicht zehn Tage wirklich frei. Natürlich nicht am Stück, denn Betriebshelfer sind nicht billig. „Als wir mal drei Tage und zwei Nächte weg waren von daheim, war es für uns Ungeübte schon ein Drama.“ Für den Freizeit-Ausgleich müssen daher kurze Ausfahrten mit einem der „Oldtimer“ reichen.
Interfamiliär hilft man sich sowieso, bei Verletzungen oder Krankheit etwa. Darüber hinaus werden die Altenteiler, wie auf Bauernhöfen üblich, unterstützt. So müsse also schon viel passieren, dass sich Landwirte nicht an ihr Tagwerk machen, und sei es mit dem Kopf unterm Arm. „Auch wenn die Arbeit manchmal schwer ist und nie ausgeht, ist sie für die innere Zufriedenheit wichtig“, sind sich die beiden Hofbetreiber einig. Das Wohl ihrer Tiere ist ein großer Bestandteil dieser Zufriedenheit. Manche Tiere mögen auch noch ein bisschen mehr Aufmerksamkeit. Deshalb kann es auch vorkommen, dass man die Schußmanns mit einzelnen Kühen oder Kälbchen spazieren gehen sieht – am Hof vorbei den Brunnenweg runter über den Enzianweg und zurück.
Ein bisschen Spaß muss sein
Fester „Bestandteil“ im Ortsbild der Waakirchner Mitte ist seit Jahren der blasse Kerl, der jahrein, jahraus, bei Wind und Wetter auf dem Balkon des Hofs ausharrt. Mal fesch, mal salopp gekleidet – „Scho-Schack“ hoaßt er auf guad Boarisch. In den Sommermonaten gesellt sich gerne seine Schix Louisa dazu. Im Winter ist es der Mannequin-Dame zu kalt, sagt Christina, die sich schon seit Jahren einen Spaß daraus macht, die Schaufensterpuppen immer wieder neu und saisonal passend einzukleiden. Anlässlich des Gaufestes 2019 in Waakirchen kam Scho-Schack freilich in der Lederhosen und im feinen Gillet samt Haferlschuh und Hut daher und Louisa im feschen Dirndlgwand.
Was die ferne Zukunft des Hofs betrifft ist noch völlig offen. Irgendwann einmal werden sich selbst Klaus und Christina aus dem aktiven Biobauern-Leben zurückziehen. Momentan ist das aber noch völlig unvorstellbar. Die beiden erwachsenen Töchter der Schußmanns samt ihren Partnern werden den alteingesessenen Betrieb wahrscheinlich anders weiterführen. Bis dahin aber halten Christina und Klaus den Betrieb, ihre Wiesen, Weiden und ihren Wald in Schuss und ihre Tiere im Wellness-Modus – für beste Bio-Milch von glücklich-verwöhnten Kühen.
Text: Daniela Skodacek, Fotos: Fam. Schußmann, Daniela Skodacek
*Das Freilichtmuseum Glentleiten ist das Museum des Bezirks Oberbayern für das ländliche Leben, Wohnen und Wirtschaften vergangener Jahrhunderte. Es liegt oberhalb von Großweil zwischen Murnau und dem Kochelsee. Quelle: Wikipedia
Biobauernhof Familiengeführte Landwirtschaft Milchviehbetrieb